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  • Puh seit Mitte letzten Jahres bin ich hier eigentlich nicht mehr wirklich aktiv gewesen. Mal sehen wer von "damals" noch hier ist :)

    Ich hab vorhin auf'm Handy das Wetter gecheckt einfach um zu wissen ob die Sonne schon wieder versuchen wird mich umzubringen. Da habe ich gesehen, dass in der Gegend hier für nächste Woche durchgehend ~26° und leicht bewölkt angegeben wird. Bis 2022 hat so ein Anblick mein motorradfahrendes Ich noch ähnlich glücklich gemacht wie Pamela Anderson in Baywatch mein pubertäres Ich damals. Ich hab einen kurzen emotionalen Stich wahrgenommen, zusammen mit der Frage wieso das jetzt nicht mehr so ist. Nun ja, weil ich jegliches Interesse am Motorradfahren verloren habe.

    Ich bin Ende 20, mein kleiner Bruder ist Mitte 20. Aufgrund vieler Umstände, komischer Entscheidungen aller möglichen Personen und wahrscheinlich auch wegen meines komischen (nicht haha-komisch sondern merkwürdig-komisch) Charakters standen wir uns nie so richtig nahe. Motorradfahren war das einzige, das wir so richtig gemeinsam hatten. Wir waren immer Mal wieder zusammen unterwegs und ich hab's sehr genossen mit ihm über Motorrader zu quatschen. Wir haben uns zusammen einen Motorradanhänger gekauft und waren letztes Jahr zusammen im Motorradurlaub in den französischen Alpen. Wir haben uns fest vorgenommen das jedes Jahr zu machen. Um die Jahreswende rum haben wir schon enthusiastisch drüber gequatscht wie wir unsere Maschinen zusammen aus dem Winterschlaf holen und wo wir zusammen unsere erste Runde drehen. Ich hab mich wirklich drauf gefreut und das muss was heißen weil mein psychisch kaputtes Ich sich echt nicht über viele Sachen freut. Aber durch das Motorradfahren sind wir uns näher gekommen. Wir haben während Pausen auf unseren Touren immer mehr auch über anderes geredet. Über unsere Leben, ich hab ihm zugehört, er mir und wir haben uns gegenseitig versucht Ratschläge zu geben soweit möglich. Ich hab angefangen ihn richtig kennenzulernen.

    Dann kam Ende Februar der Hirntumor. Es hat bei ihm mit einem leichten Zittern in der linken Hand angefangen. Wir haben das auf den Stress wegen seiner Prüfungsphase geschoben. Als sein Mundwinkel anfing zu hängen und er sein linkes Bein hat schlurfen lassen sind wir ins Krankenhaus. Die haben ihn einen Tag später in eine Spezialklinik überwiesen. Die haben uns einen Tag später die Diagnose mitgeteilt: wahrscheinlich ein inoperabler, bösartiger Hirntumor. Nach unzähligen Biopsien, Blutabnahmen, EEGs, Lumbalpunktionen und Knochenmarkentnahmen, Krämpfen und ein paar Tagen im Koma wird er seit ungefähr Mitte April auf ein T-Zell-Lymphom im Gehirn behandelt. Das sind theoretisch gute Nachrichten, den Lymphome sind mit Chemotherapien heilbar. Dummerweise verläuft so ne Therapie vor allem am Anfang nicht linear, d.h., er kriegt Medikamente und es geht mit fortlaufender Zeit immer besser, sondern in Schüben, Phasen und Wellen. Während den ganzen Monaten musste ich mit ansehen wie mein Bruder anfangs einen Joghurtbecher nicht mehr öffnen konnte weil er zu wenig Kontrolle über seine linke Hand hatte. Irgendwann konnte er nicht mehr richtig gehen, war schnell erschöpft, hat halluziniert, war räumlich und zeitlich verwirrt, d.h., in seinem Kopf war er gerade wo ganz anders und hatte irgendwelche Dinge vor. Das ging so weit, dass er zwischen den Behandlungen nicht mehr nach Hause konnte weil er 24h Beobachtung brauchte. Er wohnt mit seiner Freundin zusammen und sie meinte er sei nachts Mal aufgestanden um aufs Klo zu gehen aber in Wirklichkeit hat er den Ofen voll aufgedreht und ist dann wieder ins Bett. Er hat angefangen sich vollzusabbern, braucht ne Windel und tippt minutenlang auf dem Display des Handys Rum obwohl der Akku alle ist.

    Ich hab jetzt noch nicht so viel Lebenserfahrung. Ich kannte sowas nur aus Filmen und ne emotionale Verbindung war zu den Charakteren auch nie da gewesen. Jeden eignen Schritt am eigenen Leib mitzuerleben und zuzusehen wie der kleine Bruder immer hilfloser wird ... Das hat was in mir kaputt gemacht. Ich wache jede Stunde auf und gucke panisch aufs Handy weil ich Angst habe, dass was passiert ist. Wenn mir das Display eine ungelesene Nachricht anzeigt krieg ich Panik weil ich sofort denke, dass mein kleiner Bruder tot ist.

    Ich weiß nicht wieso ich das alles schreibe. Aufmerksamkeit ist mir scheiß egal, von euch kann mir sowieso niemand helfen. Wahrscheinlich ist es eine Art Versuch der Selbsttherapie. Aber ich weiß wieso ich jetzt gerade an den ganzen Kram den ich hier tippe denke muss. Wegen dem Motorradfahren. Unsere Motorräder stehen wie Ende letzter Session eingepackt auf den Montageständern in der Garage unserer Eltern. Entweder wir packen unsere Maschinen zusammen aus und fahren oder ich muss es alleine machen und dann werde ich sie verkaufen.

    Jungs und Mädels, auch wenn das schon eine Millionen Mal gesagt wurde, es Millionen Filme, Lieder, Wandtattoos und Spruchbänder dazu gibt, ich muss es trotzdem sagen. Ich glaube inzwischen, Menschen die in so einer Situation sind wie ich haben einfach den Drang es allen anderen mitzuteilen damit auch nur die Chance besteht, dass sie es anders machen können. Nehmt nichts für selbstverständlich. Wen liebt ihr? Was habt ihr euch nie getraut? Sagt es den Leuten und tut was ihr wollt. Ich hab mir immer gesagt, dass ich erstmal meine Promotion fertig mache und mich dann in Ruhe mit meinem Bruder auseinandersetze. Immerhin ist viel Zeit. Ich bin jung, mein Bruder ist jung. Was soll schon passieren? Mein Bruder war kerngesund, Nichtraucher, kaum Alkohol, keine Drogen, gute Ernährung, Sport aber vor allem erst Mitte 20. Jetzt frisst so ein scheiß Ding sein Gehirn auf. All die "schweren" Entscheidungen der Vergangenheit, all die Absagen wegen den lächerlichsten Gründen, all die verworfenen Pläne und nicht realisierten Wünsche. Die sind jetzt unveränderlich Teil der Realität und ich denke mir was für ein riesiger dummer Idiot ich doch war. Wartet nicht wie ich bis etwas passiert, das euch komplett den Boden weghaut.

    :boingser:boingser:boingser

    Einmal editiert, zuletzt von Royber (23. Juli 2022 um 12:36)

  • Lieber Daniel,

    Auch wenn es dir vermutlich nicht hilft:

    Ich bin sehr ergriffen von deinem Bericht, und ich kann mir nicht ansatzweise vorstellen, was sowas mit einem macht. Ich weiß viel zu wenig über das Krankheitsbild deines Bruders um auf Besserung hoffen zu können. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es einem selbst meistens hilft, sich irgendwem mitteilen zu können. Solltest du mehr dazu schreiben wollen, werde ich es gerne lesen und damit an deinen Gedanken und Gefühlen teilhaben.

    Ich drücke dir ganz fest die Daumen.

    LG, Michael

  • Auch von mir wünsche ich Dir große Kraft, so eine schreckliche Situation durchzustehen. Deinen Bruder wünsche ich ein Wunder und Heilung.

    So etwas macht mich nachdenklich, man kann echt froh sein gesund zu sein und jeden Tag zu genießen.

    BMW R1200R LC, 2017-2019 Tracer700, vorher Kawasaki ER-6n

  • Danke.

    Ja zu den Prognosen hätte ich noch was sagen sollen. Es gibt verschiedene Arten von Tumoren. Im Prinzip hängts davon ab welche Art von Zellen durchdrehen. Knochenzellen (Knochenkrebs), "blut"zellen (Blutkrebs), usw. Vereinfacht ausgedrückt. Je nachdem welche Art von Tumor es ist können sie an unterschiedlichen Stellen auftreten und können unterschiedlich gut operativ oder medikamentös behandelt werden. Die meisten Krebsarten sind nicht heilbar. Heilbar bedeutet, man behandelt medikamentös und die Krebszellen verschwinden vollständig und man geht auch nicht davon aus, dass der Krebs irgendwann zurückkommt. Alles ist wie vorher. Zumindest abgesehen von Nebenwirkungen durch die Chemo-Medikamente.

    T-Zellen sind Teil des Immunsystems/Lymphsystem. Das befindet sich überall im Körper. Ein Tumor der aus T-Zellen besteht nennt man T-Zell-Lymphom. Genau wie das Lymphsystem, also ein Teil unseres Immunsystems, überall im Körper ist, können T-Zell-Lymphome überall im Körper auftreten. Mein Bruder hatte einfach Pech, dass das Ding in seinem Gehirn gewachsen ist. Die Dinger streuen auch relativ einfach (eben weil das System im ganzen Körper verteilt bzw. verbunden ist). Die Ärzte meinen T-Zell-Lymphome machen unter 1% aller Krebsdiagnosen aus. Noch viel seltener sitzen sie im Gehirn. Noch viel seltener treten sie bei jungen Menschen auf.

    So negativ das alles klingt, und in so einer Situation konzentrieren sich viele Menschen im direkten Umfeld zuerst auf das negative, T-Zell-Lymphome gehören zu den Arten von Tumoren/Krebs die heilbar sind. D.h. mein Bruder macht jetzt Chemo um Chemo durch mit regelmäßigen MRTs um zu schauen ob das Teil kleiner wird. Die Ärzte meinen aber auch, dass es keine Garantie gibt. Es ist immernoch eine tötliche Erkrankung die auch noch im Gehirn sitzt.

    Der Plan ist also gerade Medis, abwarten, beobachten, und wiederholen. Wie es aussieht schlagen die Chemos bisher an. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass es auch so weitergeht. Außerdem bedeutet es nicht, dass die Symptome im selben Maß besser werden wie der Tumor schrumpft. Im Prinzip ist das alles einfach ein richtig übler clusterfuck an Mist der im Körper meines Bruder abgeht mit der Chance, dass er wieder gesund wird. Wie hoch diese Chance ist kann aber niemand sagen. Außerdem sind Chemomedikamente pures Gift für den Körper die heftige Nebenwirkungen verursachen. Es ist also alles drin. Es kann gut gehen aber muss nicht.

    :boingser:boingser:boingser

  • Vielen Dank für die Aufklärung. Liest sich vielleicht jetzt doof, aber dann gibt es ja immerhin eine minimale Chance auf einen halbwegs guten Ausgang. Und da ich ein unerschütterlicher Optimist bin, solange keine Fakten dagegen sprechen, drücke ich deinem Bruder ganz fest die Daumen, dass er die Kraft behält, um diesen guten Ausgang zu kämpfen. 🙏🙏🙏

  • Das tut mir sehr leid zu lesen, mein aufrichtiges Beileid. Ich habe sowas ähnliches auch schon erlebt, aber dazu werde ich mich hier nicht äußern. Aber ich stimme dir bei deinem letzten Absatz auf jeden Fall zu.

    Alles unter 300 Kilometer ist Brötchen holen. :toeff

  • Gute Besserung. Mehr kann ich hier nicht wünschen.

    Gut wird für Dich sein, dass Du Dich mal dazu geäussert hast. Das kann freier machen.

  • Nie die Hoffnung aufgeben: meine Mutter wurde letztes Jahr wg. Krebs operiert und die Ärzte meinten: hätten wir alles raus was nötig wäre, wäre sie eine leere Hülle und hoffentlich erlebt sie Weihnachten noch. Heute, knapp 1 Jahr nach der OP gilt sie als geheilt....

    Drücke Euch die Daumen!!!!!!!

    Freiheit für die Straßen, weg mit dem Teer!

  • Kacke so etwas zu lesen.
    Ich wünsche alles erdenklich Gute und hoffe daß die Sache gut ausgehen wird.

    Ich hab schon mehr vergessen, als Du jeh erlebt hast!